Spinalkanalstenose – Die unterschätzte Gefahr
Der interessante Fall Spinalkanalstenose – Die unterschätzte Gefahr ist auch erschienen im stern 27/2017.
Es gibt tatsächlich Krankheitsbilder und Diagnosen, die hat jeder schon mal gehört, über die kann ein Mediziner, ja schon ein Medizinstudent, vortrefflich umfänglich referieren und dennoch weiss nicht einmal jeder Facharzt, den es betrifft, welche Risiken dahinter lauern…
Typisch ist der Fall von Gerlinde S., 65 Jahre alt, verheiratet mit Manfred seit 40 Jahren. Bei den Feierlichkeiten zum Hochzeitstag wird viel getanzt. Gerlinde möchte so gern, war früher ja richtig gut, aber sie kann nicht. Der Rücken! Immer wieder der Rücken. Schmerzen, die sich messerartig ins Kreuz bohren und ausstrahlen in beide Gesäßhälften. Blockartige, zentnerschwere Last im Becken. Ziehen in beiden Leisten. Schwere und Schwäche bei jeder Bewegung. Schon das Stehen fällt ihr schwer, weit Laufen kann sie auch nicht. Wer denkt da ans tanzen.
Sie hat „Verschleiß“. Das sagt jedenfalls ihr Orthopäde. Zu dem hat sie ihr Hausarzt geschickt, nachdem die standardmäßig verordneten Pillen ja nicht halfen und ein MRT der Lendenwirbelsäule und eine Vielzahl daraus hervorgehender Diagnosen vorlagen. „Bandscheiben hinüber, Gelenke kaputt, Knochen morsch“. So oder so ähnlich hat er das erklärt, eine Spritze verabreicht, dann andere Tabletten aufgeschrieben und sechsmal Krankengymnastik. Da könne man nichts weiter machen. Auf gar keinen Fall solle sie sich operieren lassen. Das sei viel zu gefährlich und ohnehin unnütz. Sie müsse lernen damit zu leben und halt akzeptieren, dass sie keine 20 mehr sei, hat der erfahrene Facharzt ihr noch mit auf den Weg gegeben.
Das sind ja tolle Aussichten bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von weit über 80 Jahren, hatte sie da noch still für sich gedacht.
Kurz vor Ende der Feier fiel sie hin. Stolperte. Über eine flache Kante im Boden. Wirklich zu ungeschickt, wie sie sich selbst gegenüber erbost eingestand. Manfred sorgte sich, es könne verstaucht sein, aber sie wusste gleich – das Handgelenk war hin. Sie hatte es sich gebrochen. Der Notarzt bestätigte es ihr dann auch und nahm sie mit ins Krankenhaus. Dort wurde das Handgelenk geröngt, in lokaler Betäubung wieder eingerenkt, eingegipst, nochmal geröngt und schliesslich durfte sie mit dem Arm in der Schlinge nach hause. Ein paar Wochen später dann nahm ihr der Orthopäde den Gips ab und erklärte den Knochenbruch für geheilt.
Ein Jahr später war sie wieder in der Notaufnahme. Sie hatte sich eine Schenkelhalsfraktur zugezogen, einen hüftgelenknahen Bruch des Oberschenkelknochens. Sie war beim Spazierengehen plötzlich gestürzt und auf die Bordsteinkante geschlagen. Sie musste gleich operiert werden. Die Verletzung heilte gut. Aber die Ärzte machten sich Sorgen…
Sie war jetzt schon zweimal gefallen. Und sie hatte keine Ahnung warum. Sie konnte sich an nichts erinnern. Die Ärzte erklärten ihr, sie sei wohl „synkopal“ gewesen. Eine Synkope ist kurzzeitiger Bewusstseinsverlust. Man müsse herausbekommen woran das bei ihr liegt. Man müsse an einen Schlaganfall denken, auch wenn sie keinerlei neurologische Ausfallerscheinungen hatte. Wahrscheinlich sei eine kurzzeitige Durchblutungsstörung der Halsgefässe. Es könne sich aber auch um ein Herzleiden handeln…
Es wurde zunächst das Herz untersucht. Blutdruck-Kontrollen, EKG und andere umfangreiche Untersuchungen folgten. Die Gefässe wurden mit Ultraschall überprüft. Da man gar nichts ungewöhnliches fand, folgte schliesslich eine Computer-Tomografie ihres Gehirns. Der Neurologe fand aber keinerlei Auffälligkeiten ausser einem Restless-legs-Syndrom, da eine Polyneuropathie als Erklärung für das Kribbeln in ihren Beinen mangels Diabetes mellitus ausschied. Nach 3 Wochen Krankenhaus und weiteren 5 Wochen Reha-Klinik kam sie wieder nach hause. Manfred freute sich und gemeinsam wurden sie langsam wieder aktiv.
Sie gingen wieder spazieren, langsamer und nicht so weit wie früher, aber regelmäßig. Wann immer sich die Gelegenheit bot setzten sie sich auf eine Bank und sahen eine Zeit lang den Passanten und den Tauben zu. Nur die Treppen rauf und runter kam Gerlinde kaum noch allein. Manfred musste ihr helfen. In der Wohnung kam sie gut zurecht.
Wieder wusste sie nicht, wie ihr das hatte passieren können. Ich habe so wahninnige Kopfschmerzen, sagte sie noch zu Manfred, ehe sie das Bewusstsein verlor. Als sie auf der Stroke-Unit, einer Intensivstation für Patienten mit Hirnerkrankungen, wieder wach wurde, hatte sie kein Gefühl in ihrem rechten Arm und auch nicht im rechten Bein. Sie konnte weder den Arm, noch das Bein bewegen. Und Sie konnte nicht sprechen!
Sie war wieder gestürzt. Diesmal in der Wohnung. Und mit dem Kopf auf die Tischplatte geschlagen. Ein Blutgefäß im Innern ihres Schädels war dabei geplatzt. Druckschädigung des Gehirns war die Folge. Subduralhämatom nannten die Ärzte das. Diesmal dauerte der Krankenhaus-Aufenthalt viele Wochen. Aus der Reha-Klinik entlassen wurde sie nach insgesamt 3 Monaten.
Mit dem Rollator kam sie gut zurecht. Sprechen konnte sie wieder ganz normal und der Arm funktionierte im Grunde schon wie zuvor. Nur das Laufen machte ihr zu schaffen. Diese permanente Unsicherheit. Ihre Beine fühlten sich an, als gehörten sie nicht zu ihr, so schwer. Und diese verdammten Rückenschmerzen. Das lange Liegen war eine Tortur gewesen und jetzt wurde es nicht wirklich besser. Rückenschule, Physiotherapie, Reha-Sport nichts half.
Sie hatte nun schon soviel durchgemacht. Sich ohne weiteres damit abfinden wollte sie nicht. So suchte sie einen bekannten Spezialisten auf. Eine zweite Meinung wolle sie. Kann man denn gar nichts machen, damit das besser wird, wollte sie wissen.
Nachdem der Arzt ihre Geschichte aufmerksam angehört hatte, wollte er gerne die MRT-Bilder von damals sehen – um seinen Verdacht zu bestätigen. Und dann erklärte er ihr warum sie Rückenschmerzen hatte, warum sie immer hinfiel, was man dagegen tun kann und was man von Anfang an hätte tun können, um ihr die gesamte Leidensgeschichte zu ersparen.
Denn, die Ursache von all dem war eine absolute Spinalkanalstenose, die schon vor Jahren im MRT klar erkennbar war…
5 Tage nach der mikrochirurgischen Erweiterung des Rückenmarkkanals war Gerlinde wieder zuhause. Die Wunde tat noch etwas weh, aber sie war sehr klein und die Rückenschmerzen waren schon viel besser. Die Treppe, das hatte sie im Krankenhaus schon geübt, kam sie schon ganz alleine hoch. Ihre Beine kribbelten nicht mehr, waren nicht mehr schwer, gehörten wieder ihr. Sie stolperte auch nicht mehr. Gestürzt ist sie seither nie mehr.