Bandscheibenvorfall – aber „Wir operieren keine Bilder!“
Dieser Leitsatz ist mir in Fleisch und Blut übergegangen und ich habe ihn darum auch als Mahnung schon vielfach an jüngere Kollegen zu ihrer Ausbildung weitergegeben. Was damit gemeint ist: Nicht erst ein Röntgen-, CT- oder MRT-Bild sollte uns auf die richtige Fährte bei der Diagnosefindung führen und uns veranlassen eine bestimmte Therapie durchzuführen. Vielmehr sollte durch sorgfältige Erhebung der Krankengeschichte, also durch aufmerksames Zuhören und Erfragen der Beschwerden im Verlauf und nicht zuletzt durch genaue Untersuchung eine konkrete Verdachtsdiagnose erstellt werden. Bilder sollen diese nach Möglichkeit nur noch bestätigen. In den Bildern sollen gezielt Dinge gesucht werden, für die man schon Anhaltspunkte gefunden hat und nicht umgekehrt. Ein gutes Beispiel für die Gefahren unkritischer Auswertung von MRT-Bildern erlebte ich schon sehr bald nach Gründung meiner neuen Praxis in Hamburg. Das Beispiel zeigt auch, wie anspruchsvoll es sein kann, die richtige Diagnose zu stellen, wie aufwendig die-Untersuchung und die Bildgebung manchmal sein müssen, aber auch, dass es mit Sorgfalt und Systematik gelingt. Ein eindeutig nachgewiesener Bandscheibenvorfall erwies sich dadurch als unerheblich und eine überflüssige Operation wurde vermieden.
Eine Patientin, Mitte 30, führte „nach einer Ärzte-Odyssee“ eine Empfehlung zur sogenannten „zweiten Meinung“ schließlich zu mir. Sie hatte 3 Jahre zuvor einen Autounfall gehabt und war seither nie wieder schmerzfrei geworden. Sie beklagte anhaltende Nacken-, Rücken- und Kreuzschmerzen. Oft konnte sie sich kaum rühren, war in jeder Bewegung stark eingeschränkt. Sie verspürte wechselhaft ziehende Ausstrahlung und Sensibilitätsstörungen, mal in den Beinen, mal in den Armen. Sie hatte durchgehende Kopfschmerzen, oft auch Schwindel. In ihrem Beruf als leitende Angestellte war sie nicht mehr leistungsfähig und kaum belastbar. Als begeisterte und erfahrene Reiterin, war sie nicht mehr in der Lage, sich um ihr eigenes Pferd zu kümmern, geschweige denn es auszureiten.
Sie litt sehr unter den Beschwerden, vor allem aber an ihrer Hilflosigkeit. Denn keine Therapie brachte Besserung. Weder unzählige Stunden von Physiotherapie, noch Medikamente, noch Spritzen verhalfen zur Linderung. Schwimmen und Sport, was ja immer empfohlen wird, führte sogar zu Verschlechterung. Ihre Lebensqualität litt massiv. Sie war mit den Nerven vollkommen am Ende. Immer wieder kamen ihr die Tränen wenn die selbstbewusste und ganz im Leben stehende junge Frau von ihrem langen Leidensweg erzählte, der geprägt war von wechselhaften Schmerzen und Symptomen.
Besonders große Angst hatte sie vor einer bevorstehenden Operation, die man ihr nahegelegt hatte. Im MRT nämlich war schließlich ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert worden. Hierzu wollte sie meinen Rat.
Meine Erfahrung hat mich gelehrt, einen schriftlichen Befund nie zu lesen, bevor ich die Bilder nicht selbst angeschaut habe. Ansonsten ist man voreingenommen und kann eigentlich Erkennbares übersehen oder Dinge fehlinterpretieren. Auch schaue ich mir Bilder möglichst erst dann an, wenn ich weiß, was ich aufgrund der Anamnese und der Untersuchung erwarte, bzw. ausschließen möchte. Als Arzt sollte man sich generell vor übereilten Fern-Diagnosen hüten. So verfuhr ich auch in ihrem Fall.
Infektionen, Entzündungen, Rheuma, Autoimmunstörungen oder andere systemische Erkrankungen, die oft Ursache für derartige Ganzkörperschmerzen sind, waren vom Hausarzt bereits ausgeschlossen worden. Für die eigentliche Ursache der Beschwerden hatten weder er, noch Orthopäden, noch Physiotherapeuten eine plausible Erklärung gefunden. Für Arthrose, bzw. spezifische Gelenkerkrankungen ergab sich weder anamnestisch, noch laborchemisch der geringste Anhalt und alles lief auf den einzig fassbaren Befund eines Bandscheibenvorfalls an der Lendenwirbelsäule hinaus.
Das sehr komplexe Beschwerdebild und seine Entstehungsgeschichte ließ mich allerdings zuerst an einen Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule denken. Die Patientin berichtete nämlich über anfänglich starke Nackenschmerzen nach dem Auffahrunfall vor 3 Jahren. Auch berichtete sie über mehrfaches vorübergehendes Kribbeln in den Armen. Gegenstände waren ihr schon das eine oder andere Mal aus der Hand gefallen, weil ihr Ellenbogen so weh tat. Augenblicklich konnte sie sich kaum bewegen wegen stärkster Schmerzen zwischen den Schulterblättern. Es bestanden auch dumpfe Beschwerden in der Lendenwirbelsäule. Schmerzen dort und Ausstrahlung in die Beine hatten vor einiger Zeit den Anlass für die MRT-Untersuchung gegeben. Dadurch war ein Bandscheibenvorfall festgestellt worden, der nun operiert werden sollte.
Ich brauchte nicht lange, um sicher zu sein, dass sie keine Symptome hatte, die durch einen einzelnen Bandscheibenvorfall an der Lendenwirbelsäule hervorgerufen wurden. Sämtliche Tests waren negativ. Auf Höhe des eindeutig erkennnbaren Bandscheibenvorfalls bestand allenfalls ein leichter Druckschmerz. Insbesondere ließ sich eine schmerzhafte Ausstrahlung nicht provozieren. Unspezifisch, zu allumgreifend waren ihre Beschwerden. Nicht zuletzt hatte sie ja augenblicklich vor allem Schmerzen in der Brustwirbelsäule. Auch die neurologische Untersuchung war ohne Hinweis auf die Reizung einer Nervenwurzel oder des Rückenmarks oder gar des Gehirns. Die genaue Untersuchung der Halswirbelsäule wiederum konnte meinen ursprünglichen Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall ebenso wenig erhärten.
Da einerseits ein durch den Unfall verursachter Bandscheibenvorfall innerhalb von 3 Jahren durchaus zurückgegangen sein konnte und ein verbliebener Schaden der Bandscheiben andererseits nicht auszuschließen war, ließ ich vorsichtshalber eine MRT der Halswirbelsäule durchführen. Dies zeigte dann tatsächlich einen leichten Verschleiß zweier Bandscheiben und auch Vorwölbungen der Bandscheiben. Die erneute spezifische Untersuchung aber ergab wieder keinen Hinweis darauf, dass hierin das eigentliche Problem bestand.
Im Verlauf der Untersuchungen fühlte ich mich immer wieder an eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Fälle erinnert. So drängte sich mir mehr und mehr ein bestimmter Verdacht auf…
Bei massivem Druck- und Klopfschmerzhaftigkeit der gesamten Brustwirbelsäule musste aber zunächst an eine mögliche frühere Unfallverletzung gedacht werden. Durch Röntgenaufnahmen konnte ein unerkannter Wirbelbruch, eine Fehlstellung und besondere Veränderungen der Zwischenwirbelräume im Sinne von Verschleiß der Bandscheiben ausgeschlossen werden.
Die Lösung des Rätsels offenbarte sich mir schließlich dank meiner Erfahrung au dem Gebiet der Manuellen Medizin. Vor über 20 Jahren hatte ich in Berlin mit meiner Ausbildung zum Chirotherapeuten begonnen und praktiziere seither als solcher jeden Tag. Länger schon, als dass ich operiere, schule ich meine Fähigkeit muskuläre Verquellungen und funktionelle Störungen, sogenannte „Irritationspunkte“ und „Blockierungen“, mit den Fingerspitzen zu ertasten und mit den Händen zu lösen.
Durch systematische segmentale funktionelle Untersuchung aller Wirbelsäulenabschnitte und Extremitäten fand ich meinen Verdacht bestätigt und erkannte ich das typische Muster eines ausgeprägten Verkettungssyndroms. Es handelt sich dabei um eine Abfolge von Blockierungen einer mehr oder weniger großen Anzahl von Gelenken. Bei einer Blockierung handelt es sich, vereinfacht gesagt, um schmerzhaft verkrampfte Muskeln, die die Beweglichkeit eines Gelenks nahezu vollständig blockiert. Bewegung in die dadurch gesperrte Richtung führt oft zu extremer Schmerzzunahme, was weitere Verkrampfung bis hin zum Spasmus auslöst und eine noch stärkere Blockierung nach sich zieht. Der Patient kommt so aus dem Teufelskreis aus „Schmerzen-Muskeltonus-Blockierung“ nicht mehr heraus.
Während Blockierungen großer Gelenke sich meist rasch von selber wieder lösen, sind sie im Bereich der kleinen Wirbelgelenke, vor allem an der Brustwirbelsäule, häufiger und meist sehr hartnäckig. Oft sind auch die Rippenwirbelgelenke betroffen. Die Patienten haben dann Schmerzen im Brustkorb, wie bei der „Angina pectoris“. Oft wird dann eine das Herz oder die Lungen betreffende Erkrankung befürchtet. Manche Patienten können durch Muskelanspannung in einer bestimmten Körperhaltung die Blockierungen an Hals- und Lendenwirbelsäule selber lösen. An der Brustwirbelsäule ist das aber kaum möglich, da der stabile Brustkorb das nicht zulässt.
Gleiches gilt für eine Blockierung der Kreuz-Darmbein-Gelenke, auch Ilio-Sacral-Gelenke (ISG) genannt. Tritt diese beidseits und gegenläufig auf, kann eine sogenannte Beckenverwringung die Folge sein. Auffällig ist eine variable Beinlängendifferenz, die im Stehen, bzw. Liegen und im Sitzen jeweils anders herum ausfällt. Fatal ist hier übrigens ein Beinlängenausgleich im Schuh, der das Problem nämlich noch verschlimmert, statt zu bessern.
Bei meiner Patientin bestand also ein Verkettungssyndrom, bestehend aus einer Vielzahl diverser Blockierungen im ganzen Körper. Als wahrscheinliche Ursache ist die Erschütterung durch „Mark und Bein“ bei dem Verkehrsunfall zu sehen. Die dadurch verursachten muskulären Verspannungen haben sich nie ganz gelöst, schmerzhafte Blockierungen hervorgerufen und sich dadurch immer wieder gegenseitig verstärkt.
Grundsätzlich können ausser Blockierungen auch andere Störungen vorliegen und auch die eigentliche Ursache sein. Besonders wichtig ist es darum, wie in diesem Fall geschehen, durch weitreichende Diagnostik eventuelle Wechselbeziehungen zu überprüfen und Kontraindikationen zur manuellen Behandlung vorab auszuschliessen.
Der Schlüssel zur Behandlung liegt nämlich in der systematischen, gefühlvollen und sanften manuellen Lösung sämtlicher Blockierungen in der richtigen Reihenfolge. Ziel ist es, dass schließlich nicht eine einzige Blockierung mehr übrig ist, die über einen Schmerzreiz erneute Verkrampfungen der Muskelketten auslösen und damit die Verkettung von Blockierungen wieder hervorrufen würde.
Die Kunst der Manuellen Medizin (Chirotherapie, bzw. Osteopathie) besteht – außer in der exakten Diagnosestellung durch Ertasten- in der Sanftheit der zielgerichteten Behandlung. Es kommen dabei unterschiedliche aktive und passive Methoden zur Anwendung, wie z. B. bestimmte Weichteil- und Muskel-Energie-Techniken, die langsame Mobilisation und die, nur von Ärzten durchzuführende, schnelle unmittelbar effektive Manipulation. Bei dieser wird durch einen sehr schnellen, aber leichten manuellen Impuls eine sofortige Entspannung der Muskulatur über einen neuromuskulären Reflexbogen bewirkt. Dies führt zu schlagartiger Druckentlastung im blockierten Gelenk, was oft – nicht immer – mit einem Geräusch verbunden ist. Daher spricht der Laie – und leider auch einige Therapeuten – von „Knacken“. Weder ist dieses Geräusch das Ziel, noch ein Beleg für eine erfolgreiche Behandlung. Vielmehr handelt es sich um eine individuell unterschiedlich ausfallende Begleiterscheinung. Viele meiner Patienten berichten darüber, schon etliche Male „eingerenkt“ worden zu sein. Ein schrecklicher Ausdruck; was nicht verrenkt ist, kann schließlich auch nicht eingerenkt werden!
Wird nicht sauber diagnostiziert und immer nur der vordergründig schmerzhafte Bereich behandelt, wird das Verkettungssyndrom als solches also nicht erkannt und nicht aufgelöst, ist der befreiende Effekt eines chiropraktischen Manövers nur von kurzer Dauer – oder tritt gar nicht erst ein.
Problem erkannt – Problem gebannt: Bei meiner Patientin musste ich jetzt nur noch alle Blockierungen finden, sie lösen und damit die funktionellen Störungen aufheben. Zunächst erklärte ich ihr alles genau am Modell des menschlichen Skeletts und nahm ihr dadurch die Angst vor einer vermeintlich, bzw. früherer als schmerzhaft erfahrenen Behandlung. Ihr seelischer Aufruhr legte sich und Sie begab sich vertrauensvoll in meine Hände. Die innere Ruhe ist nämlich Grundvoraussetzung für die körperliche Entspannung und diese wiederum für die erfolgreiche Behandlung Es war natürlich nicht einfach jahrelang bestehende Störungen aufzulösen, aber unter Anwendung diverser Techniken unter besonderer Berücksichtigung der Atmung der Patientin gelang es in kurzer Zeit.
Als ich fertig war und sie von Kopf bis Fuß behandelt hatte, stand sie sehr langsam von der Liege auf, machte ein paar Schritte im Raum, bewegte vorsichtig Hals und Rücken, beugte sich weit nach vorne – und fing plötzlich an zu weinen.
Schnell wurde klar: Sie weinte vor Glück! Sie konnte die Erleichterung kaum fassen, nach 3 Jahren anhaltender Beschwerden plötzlich schmerzfrei zu sein. Alle Sorgen und Lasten fielen auf einmal von ihr ab. Die Panik vor einer OP war kein Thema mehr.
Von Zeit zu Zeit lässt mich meine Patientin wissen, dass es ihr immer noch gut geht. Mittlerweile ist sie wieder zufrieden in ihrem Job und vor allem glücklich auf dem Rücken ihres Pferdes. Mir wird jedes Mal bestätigt:
„Wir behandeln keine Bilder – wir behandeln Menschen!“
Eine überflüssige Operation konnte durch saubere Erhebung der Anamnese, genaue Untersuchung und differenzierte Diagnostik vermieden und das Problem mit bloßer Hand beseitigt werden. Das Beispiel zeigt, dass ein Bandscheibenvorfall als solcher keinesfalls schon eine Indikation zur Behandlung darstellt und darum auch nicht automatisch ein Grund zur Sorge sein muss. Vielmehr sind Bandscheibenvorfälle oft harmlose Nebenbefunde und das Problem liegt woanders. Manchmal allerdings kann sich gerade das stoische Festhalten an der Überzeugung, dass eine Operation um jeden Preis vermieden werden muss, für den Patienten nachteilig auswirken.
Davon erzählt ein anderer besonderer Fall aus meiner Praxis…
Bis dahin
Bewahren Sie Haltung!
Ihr